Sichtbarkeit des Lagers
Bedingt durch seine räumliche Nähe zum Dorf Hollerath war das Kriegsgefangenenlager im Verlauf seiner Nutzung im Bewusstsein der Zivilbevölkerung präsent: Sie wussten von dem Lager, von den Wachen und auch das Schicksal der dort internierten sowjetischen Kriegsgefangenen. Zeitzeug:innen berichteten, dass sie die sowjetischen Soldaten bei ihrer Ankunft in Hollerath gesehen hätten, die unter Bewachung durch den Ort zum Lager marschiert wären und sie hätten ebenfalls gesehen, dass die Männer geschlagen worden wären, weil sie im Vorbeigehen Kirschen pflückt hätten, um ihren Hunger zu stillen.1
Den Hollerather Bürger:innen blieben das Leid und der allgegenwärtige Hunger der sowjetischen Gefangenen also vermutlich nicht verborgen: Wie Erzählungen von Zeitzeug:innen aus Hollerath andeuten, wurde gesehen, wie die Männer vor Hunger in den warmen Monaten den schmelzenden Teer des Nässeschutzes der Lagerbaracken gegessen haben sollen und wie sie von den Lagerwachen misshandelt wurden.2 Wie in vielen vergleichbaren Nachkriegsnarrativen wird auch über das Lager in Hollerath berichtet, dass einzelne Hollerather Bürger:innen in Interaktion mit den Gefangenen getreten seien und versucht hätten, durch individuelle Initiativen den Hunger der Männer durch heimliche Nahrungsmittelgaben zu lindern.3 Diese Berichte lassen sich heute wohl nicht mehr stichhaltig belegen und sind mit Vorsicht zu betrachten. Es könnte sich um Selbstentlastungsstrategien der Zeitzeug:innen handeln.
Ebenso gegenwärtig im öffentlichen Bewusstsein war der Arbeitseinsatz der Männer in den Wäldern oder beim Schneeräumen auf der Hollerather Hauptstraße: Viele der Gefangenen starben beim Wegebau vor Entkräftung. Es sei zudem gesehen worden, wie die Gefangenen ihre toten Kameraden auf einfachen Bahren aus Holzstangen aus dem Wald zurück ins Lager trugen und dass diese schließlich auf dem nahen Lagerfriedhof bestattet wurden.
Inwieweit während des Bestehens des Kriegsgefangenenlagers individuelle Verdrängungsprozesse in der Wahrnehmung der Hollerather Gegenwartsgesellschaft stattfanden, lässt sich nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht abschließend rekonstruieren. Den zunächst unbestätigten Erzählungen zufolge sollen in den ehemaligen Häftlingsbaracken in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch Familien aus Hollerath eine Unterkunft gefunden haben.4
Dennoch setzte ein Verdrängungsprozess ein, der durch das Ausbleiben von institutionalisierten regionalen Initiativen des Gedenkens zu einem Vergessen des Kriegsgefangenenlagers Hollerath führte, das bis in die Gegenwart fortbesteht. Die Fokussierung gesellschaftlicher Diskurse und rechtlicher Verfolgung schuldhaften Handelns der Führungselite des ,Deutschen Reiches’ erleichterte in der Bundesrepublik Deutschland das Verdrängen lokaler und regionaler Fragen nach einer Mitverantwortung. Hieran anschließend ist die Geschichts- bzw. Gedenkkultur in Hollerath bis in die Gegenwart vornehmlich auf die (Nach-)Erzählung von Kriegsgeschichte(n) terminiert und eine tradierte Forterzählung von Täter- und Helden-Narrativen. So erinnern in der Eifelregion aus institutionalisierten und privaten Initiativen hervorgegangene Gedenkorte an die Kämpfe im Winter 1944/45 und erheben den Anspruch, an Frieden und Versöhnung zu „mahnen”, wie beispielsweise im Kontext der ,Ardennen-Offensive’ oder das Kunstprojekt ,Zum Ewigen Frieden’ am Hollerather Knie.
Die sichtbaren Relikte des Zweiten Weltkrieges in der Eifelregion sind großflächig touristisch erschlossen und werden entsprechend vermarktet: So bewirbt die Nordeifel Tourismus GmbH, eine Gesellschaft des Kreises Euskirchen, die Relikte des ,Westwalls‘ als „spannendes und einzigartiges Wandererlebnis“, bei dem man Geschichte „hautnah“ erleben kann.5 Hierbei wird jedoch kein oder wenig kontextualisiertes Wissen rund um den Krieg als Ereignis brutaler Gewalt und gezielten Tötens vermittelt. Besonders deutlich wird dies an der so beworbenen Wanderroute ,EifelSpur Westwall‘: Hier führt die Wanderroute unmittelbar am ehemaligen Kriegsgefangenenlager Hollerath vorbei, ohne auf den Ort hinzuweisen oder dessen Geschichte zu reflektieren.
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1 Vgl. Heinen, Franz Albert: “Abgang durch Tod”. Zwangsarbeit im Kreis Schleiden 1939-1945, Schleiden, 2018, S. 78-81.
2 Vgl. ebd. S. 80
3 Vgl. ebd. S. 81.
4 Vgl. ebd. S. 80.
5 Vgl. Kreis Euskirchen: Geschichte Hautnah bei einer Nordeifel-Wanderung Eifelspuren Westwall, in: Website Wanderwelt-Nordeifel, URL: https://www.wanderwelt-nordeifel.de/eifelspuren/westwall.html (abgerufen am 01.09.2022).